Friday, July 8, 2016

DE 0027 Anmerkungen anlässlich Christian Thiels Vortrag von 1993 über die Begriffsschrift

# DE 0027

Der Vortrag von Prof. Christian Thiel, auf den sich die folgenden Anmerkungen beziehen, erschien unter dem Titel «"Nicht aufs Gerathewohl und aus Neuerungssucht": Die Begriffsschrift 1879 und 1893» in Logik und Mathematik. Frege Kolloquium 1993. Herausgegeben von Ingolf Max und Werner Stelzner. Walter de Gruyter. Berlin, New York. 1995, S. 20-37.

In diesem exzellenten und außerordentlich lehrreichen Vortrag erklärt und vergleicht Prof. Thiel die beiden Versionen der Begriffsschrift Freges und stellt einige der herkömmlichen Auffassungen zu Freges Sichtweise der Logik und Sprachphilosophie in Frage. Es ist nicht meine Absicht in diesem Beitrag den Vortrag Prof. Thiels im allgemeinen zu diskutieren.

Ich möchte statt dessen an einige Fragen anknüpfen, die Prof. Thiel gegen Ende seines Vortrags aufwirft. So bemerkt er, dass im Anschluss an Russells Brief, in dem dieser Frege die aus seinem System herleitbaren Antinomien aufzeigt, Frege zu dem Schluss kommt, dass "der Begriffsumfang im hergebrachten Sinne des Wortes eigentlich aufgehoben" ist (Grundgesetze II, 260b) und fährt dann fort:

Die Philosophen ...hätten zu diskutieren, mit welchem Recht wir, Freges Satz χ als richtig unterstellt, in der heutigen Logik und Mengenlehre weiterhin solche Entitäten postulieren. Frege hat sich in den letzten beiden Jahren seines Lebens so geäußert, dass man bei einem solchen Vorgehen nur einer Täuschung der Sprache unterliege, die die Bildung von Eigennamen gestatte, denen gar kein Gegenstand entspricht. Kennzeichnungen der Form "der Umfang de Begriffes F" galten ihm jetzt als typische und, wie er nun aus eigener Erfahrung meinte, besonders gefährliche Ausdrücke dieser Art. (ibid. S. 33).

Prof. Thiel sagt hier nicht, dass das alles ist, was die Philosophen bezüglich Frege zu diskutieren hätten. Aber er scheint nahezulegen, dass es solche "technischen" Fragen sind, die uns bei der Aufarbeitung von Freges Werk zu beschäftigen haben. Ich denke, wenn wir so einen Schluss ziehen, dann kommt unser philosophisches Interesse zu kurz.

Es ist richtig, denke ich, wenn wir in Frege einen der Begründer der philosophischen Strömung sehen, die unter dem Namen Analytische Philosophie begriffen ist. Aber das darf uns nicht dazu verführen in Frege nur einen Vorläufer der analytischen Philosophie zu sehen und sein Werk nur unter dem Gesichtspunkt zu beurteilen, ob und was verschiedene seiner Aspekte zu dem heutigen philosophischen Paradigma beitragen. Es würde dies unmöglich machen, nicht nur Frege als Produkt seiner Zeit zu sehen, sondern die Rolle der analytischen Philosophie selbst in der Entwicklung des westlichen Denkens. Eines der wesentlichen Merkmale des menschlichen Denkens ist, dass es sich selber stets übersteigt; die Sicht, dass es sich dabei um zeit- und geschichtslose Wahrheiten handelt, läuft Gefahr zu einem Klotz am Bein für das Denken zu werden. Das ist ein Punkt, auf den uns Sluga (z.B.: 1980 und 1999) aufmerksam macht, und der es verdient weiter verfolgt zu werden.

Ein zu enges Studium von Freges Erbe, so sehr es wichtig ist über die "technischen" Fragen ins reine zu kommen, grenzt einen wichtigen Teil des philosophischen Potenzials aus, das in diesem Erbe steckt. Spezialisten wie Prof. Thiel (ich weiß nicht, ob er selbst) neigen dazu eine weniger technische Behandlung als inadäquat zu sehen; Wittgenstein war ein großer Bewunderer Freges, aber man kann manchmal lesen, dass es fraglich ist, ob er ihn wirklich verstanden hat; und Wittgenstein's technisches und mathematisches Wissen wird öfter als manchmal in Frage gestellt, und daher auch sein Beitrag zur analytischen Philosophie. Es haben nicht viele Leute, die ihre Spuren in der Geschichte der Philosophie gelassen haben so intensiv mit Frege diskutiert, wie Wittgenstein. Und es haben nicht viele Leute eine so starke Spur in der Geschichte der Philosophie gezogen, wie Wittgenstein.

Wie immer es sich damit verhalten mag, Wittgenstein hat einige scharfe Fragen für die Methoden der heutigen analytischen Philosophie, über die diese zumeist mit (manchmal verächtlichem) Schweigen hinweggeht. Ich denke, das ist ein Fehler.

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Sluga, Hans Gottlob Frege. The Arguments of the Philosophers; Routledge, London y New York, 1980.
Sluga, Hans. 1999 “Truth before Tarski” en Alfred Tarski and the Vienna Circle. J. Editado por Wolenski y E. Kohler, 27-41. Dordrecht: Kluwer.